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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Zusammenfassung des Urteils IV 2014/230: Versicherungsgericht

A. hat sich im März 2007 erstmals bei der IV-Stelle angemeldet, da sie an Morbus Menière leidet. Trotz mehrerer Gesuche wurde ihr nur eine halbe Rente zugesprochen. Im Juli 2013 beantragte sie eine Hilflosenentschädigung aufgrund ihrer Demenzerkrankung. Nach rechtlichen Auseinandersetzungen wurde ihr schliesslich eine Entschädigung bei leichtgradiger Hilflosigkeit zugesprochen, rückwirkend ab Januar 2013. Die Gerichtskosten in Höhe von 600 CHF muss A. tragen.

Urteilsdetails des Kantongerichts IV 2014/230

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2014/230
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2014/230 vom 12.12.2016 (SG)
Datum:12.12.2016
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 42 IVG. Art. 37 f. IVV. Hilflosigkeit. Lebenspraktische Begleitung. Abgrenzung zur Hilflosigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen. Anspruchsbeginn (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Dezember 2016, IV 2014/230).
Schlagwörter : Begleitung; Verfügung; Hilflosigkeit; IV-act; Recht; Person; Hilfe; Lebensverrichtung; Lebensverrichtungen; Lebenspartner; Dritthilfe; Entschädigung; Beiständin; Bereich; IV-Stelle; Fortbewegung; Hilflosenentschädigung; Überwachung; Franken; Vorbescheid; Zeitpunkt
Rechtsnorm:Art. 123 ZPO ;Art. 38 ATSG ;Art. 39 ATSG ;Art. 42 ATSG ;Art. 60 ATSG ;
Referenz BGE:133 V 450; 137 V 351;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts IV 2014/230

Besetzung

Präsidentin Karin Huber-Studerus, Versicherungsrichterin Monika Gehrer-Hug, Versicherungsrichter Joachim Huber; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2014/230

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Simon Kehl, Unterstrasse 37, Postfach 231, 9001 St. Gallen, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin, Gegenstand Hilflosenentschädigung Sachverhalt

A.

    1. A. meldete sich im März 2007 erstmals zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an (IV-act. 10). Sie gab an, sie leide an einem Morbus Menière. Das Begehren wurde mit einer Verfügung vom 7. Juni 2007 abgewiesen (IV-act. 22). Im März 2009 meldete sich die Versicherte erneut zum Leistungsbezug an (IV-act. 1). Die IV-Stelle sah die Abgabe eines Hörgerätes vor (IV-act. 48), doch die Versicherte versäumte vier Termine und verlor ein Ohrpassstück, weshalb die Anpassung eines geeigneten Hörgerätes vom Hörgeräteversorger im Januar 2010 abgebrochen wurde (IV-act. 57). Im Februar 2010 zog die Versicherte ihr Gesuch um die Abgabe eines Hörgerätes zurück (IV-act. 59). Der Neurologe Dr. med. B. berichtete im März 2010 (IV-act. 61), die Versicherte leide an einem milden cognitive impairment. Dieses Krankheitsbild könne einer dementiellen Entwicklung vorausgehen. Es könne sich aber auch um ein Krankheitsgeschehen handeln, das sich zurückbilde stationär bleibe. Im Mai 2011 berichtete Dr. B. über eine leichte Verschlechterung des Gesundheitszustandes (IV-act. 81). Er führte nun die Diagnose eines leichten dementiellen Syndroms an. Im September 2011 berichtete die psychiatrische Universitätsklinik Zürich, dass die Versicherte an einer leichten Demenz bei einem Verdacht auf eine Alzheimer-Demenz mit einem frühen Beginn leide (IV-act. 7). Im Januar 2012 berichtete Dr. B. (IV-act. 5), der Zustand der Versicherten habe sich in den letzten Monaten verschlechtert. Sie leide an Störungen des Gedächtnisses, beim Lernen und hinsichtlich der Exekutivfunktionen und sei im Alltag hilflos. Diagnostisch sei von einer Alzheimer-Demenz in einer familiären Frühform auszugehen. Mit einer Verfügung vom 7. Mai 2012 sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Wirkung ab dem

      1. Januar 2012 eine halbe Rente zu (IV-act. 115). Sie hatte in Anwendung der

      sogenannten gemischten Methode einen Invaliditätsgrad von 58 Prozent errechnet, wobei sie bezüglich des Erwerbsbereichs von einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit und bezüglich der Tätigkeit im Haushalt von einer Einschränkung von 15 Prozent ausgegangen war.

    2. Im Juli 2013 meldete sich die Versicherte zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an (IV-act. 121). Ihr ehemaliger Lebenspartner, der das Formular für sie ausfüllte, gab an, sie vergesse, ob sie sich bereits geduscht gewaschen habe, weshalb sie sich teilweise mehrmals pro Tag dusche wasche. Sie vergesse auch das Kämmen; vergesse sie es nicht, kämme sie sich nur nachlässig. Sie bewege sich im Freien zögerlich und ziehe sich seit zwei, drei Jahren sozial vollkommen zurück. Die Medikamente müssten ihr verabreicht werden. Ohne eine Überwachung, Begleitung und Anweisung gehe es nicht. Sie müsse beim Waschen, beim Putzen und beim Kochen überwacht werden. Teilweise benötige sie auch eine Überwachung in der Nacht. Zudem benötige sie Hilfeleistungen, die ihr das selbständige Wohnen ermöglichten, eine Begleitung für Erledigungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung und die regelmässige Anwesenheit einer Drittperson zur Vermeidung einer dauernden Isolation von der Aussenwelt. Die Hausärztin med. pract. C. berichtete am 16. August 2013 (IV-act. 138), die Versicherte leide an einer mittelschweren Demenz. Ihr sei es nicht möglich, die Hilfe für den Haushalt selbständig zu organisieren beziehungsweise zu delegieren, da sie sich krankheitsbedingt eines entsprechenden Bedarfs nicht bewusst sei. Die Beiständin der Versicherten gab am 9. September 2013 an (IV-act. 139), diese bewohne zwar eine eigene Wohnung. Jene befinde sich aber im selben Haus, in dem auch der ehemalige Lebenspartner und die Tante der Versicherten wohnten. Der Tagesablauf müsse fortlaufend besprochen werden, denn die Versicherte vergesse jeweils alles gleich wieder. Sie sei nicht mehr fähig, alleine einzukaufen und zu kochen. Der ehemalige Lebenspartner kümmere sich um die Post und um die Geldangelegenheiten. Im Haushalt könne die Versicherte nur noch einfache Arbeiten wie den Abwasch übernehmen. Ausserhäuslich sei sie stets auf eine Begleitung angewiesen. Auch beim Zubettgehen müsse sie angeleitet werden; ansonsten bleibe sie viel zu lange auf. Am 7. Oktober 2013 gab der ehemalige Lebenspartner der Versicherten der IV-Stelle telefonisch an (IV-act. 140), diese sei bei den alltäglichen Lebensverrichtungen noch mehrheitlich selbständig. Seit Januar 2012 müsse er sie aber täglich betreuen und ihr bei den Haushaltstätigkeiten helfen. Seit etwa drei

Monaten reichten Anleitungen und Anweisungen nicht mehr aus; der ehemalige Lebenspartner müsse die meisten Verrichtungen selbst übernehmen. Ohne eine Dritthilfe könnte die Versicherte nicht mehr selbständig wohnen. Am 9. Januar 2014 notierte Dr. med. D. vom IV-internen regionalen ärztlichen Dienst (RAD; IV-act. 144), die Angaben der Bezugspersonen der Versicherten und der behandelnden Ärzte stimmten im Wesentlichen überein. Ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung sei ausgewiesen. Mit einer Verfügung vom 4. März 2014 sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Wirkung ab dem 1. Januar 2013 eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades zu (IV-act. 148). Diese Verfügung versandte sie an die Beiständin der Versicherten. Diese teilte aber am 17. März 2014 mit, dass die Beistandschaft schon am 27. Februar 2014 aufgehoben worden sei (IV-act. 149). Am

20. März 2014 sandte die IV-Stelle der Versicherten direkt eine Kopie der Verfügung vom 4. März 2014 zu (act. G 1.2).

B.

    1. Am 2. Mai 2014 liess die nun anwaltlich vertretene Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Beschwerde gegen die Verfügung vom 4. März 2014 erheben (act. G 1). Ihr Rechtsvertreter beantragte die Aufhebung der angefochtenen Verfügung und die Zusprache einer Entschädigung bei einer mittelgradigen Hilflosigkeit. Zur Begründung führte er aus, die Beschwerdeführerin benötige nicht nur eine lebenspraktische Begleitung, sondern sei auch bezüglich der Körperpflege und bei der Fortbewegung ausser Haus auf eine regelmässige, erhebliche Dritthilfe angewiesen. Bei der Medikamenteneinnahme benötige sie dauernde medizinisch-pflegerische Hilfe. In einem Begleitschreiben zur Beschwerde (act. G 1.3) hielt der ehemalige Lebenspartner der Beschwerdeführerin fest, er habe nie angegeben, die Beschwerdeführerin sei bezüglich der alltäglichen Lebensverrichtungen noch mehrheitlich selbständig. Dies wäre denn auch ein erheblicher Widerspruch zu seinen übrigen Angaben gewesen.

    2. Am 4. Juni 2012 teilte das Versicherungsgericht dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit (act. G 6), dass dieser die unentgeltliche Rechtsverbeiständung bewilligt werde. Von der entsprechenden Entschädigung werde

      aber die von einer Rechtsschutzversicherung zugesagte Entschädigung von 1’380

      Franken abgezogen.

    3. Die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) beantragte am 12. August 2014 die Abweisung der Beschwerde (act. G 8). Zur Begründung führte sie aus, die einzelnen Hilfestellungen dürften nicht doppelt berücksichtigt werden. Die von den Bezugspersonen der Beschwerdeführerin angegebenen Hilfestellungen bei der Körperpflege und bei der ausserhäuslichen Fortbewegung sowie die Überwachung der Medikamenteneinnahme seien allesamt bereits im Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung berücksichtigt.

    4. Die Beschwerdeführerin liess am 16. September 2014 an ihren Anträgen festhalten

(act. G 10). Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (vgl. act. G 12).

Erwägungen

1.

Die angefochtene Verfügung datiert vom 4. März 2014. Sie ist der ehemaligen Beiständin der Beschwerdeführerin zugestellt worden, da die Beschwerdegegnerin bei der Verfügungseröffnung noch keine Kenntnis darüber hatte, dass die Beistandschaft bereits am 27. Februar 2014 beendet worden war. Die Beschwerdegegnerin hat sich zwar bei der damaligen Aktenlage korrekt verhalten, indem sie die Verfügung an die Beiständin versandt hat. Tatsächlich hat es sich aber bei der früheren Beiständin, wenn auch für die Beschwerdegegnerin damals noch nicht ersichtlich, nicht mehr um jene Person gehandelt, der die Verfügung hätte zugestellt werden müssen. Die frühere Beiständin ist im Zeitpunkt der Zustellung der Verfügung nur noch eine unbeteiligte Drittperson gewesen. Aus dem Umstand, dass sie noch bis wenige Tage vor der Zustellung der Verfügung die Beiständin der Beschwerdeführerin gewesen war, kann nicht abgeleitet werden, dass sich nach der Beendigung der Beistandschaft noch verpflichtet gewesen wäre, die Verfügung an die Beschwerdeführerin weiterzuleiten. Die Zustellung an die frühere Beiständin der Beschwerdeführerin hat also nicht jene Wirkung entfaltet, die eine direkte Zustellung an die - damals weder verbeiständete noch anwaltlich vertretene - Beschwerdeführerin gehabt hätte. Sie hat also den

Fristenlauf im Sinne des Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. dem Art. 38 Abs. 1 ATSG nicht auslösen können. Nur die Zustellung an die Beschwerdeführerin selbst hätte diese Wirkung haben können. Nachdem die Beschwerdegegnerin von der Beendigung der Beistandschaft erfahren hatte, hat sie daher am 20. März 2014 die angefochtene Verfügung völlig zu Recht der Beschwerdeführerin selbst (nochmals) eröffnet. Damals war die Beschwerdeführerin noch nicht anwaltlich vertreten, weshalb die Zustellung der Verfügung an sie selbst fristauslösend im Sinne des Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. dem Art. 38 Abs. 1 ATSG gewesen ist. Die Verfügung kann frühestens am Folgetag, also am Freitag, den 21. März 2014, zugestellt worden sein. Angesichts des Fristenstillstandes über Ostern (der Ostersonntag fiel auf den 20. April 2014) im Sinne des Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. dem Art. 38 Abs. 4 lit. a ATSG) hat die dreissig Tage dauernde Beschwerdefrist (Art. 60 Abs. 1 ATSG) frühestens am 4. Mai 2014 enden können. Mit der Aufgabe der Beschwerde zuhanden des Versicherungsgerichtes an die Schweizerische Post am 2. Mai 2014 ist die Beschwerdefrist folglich gewahrt worden (Art. 60 Abs. 2 ATSG i.V.m. Art. 39 Abs. 1 ATSG). Auf die Beschwerde ist deshalb einzutreten.

2.

Laut dem Art. 57a Abs. 1 IVG hat die IV-Stelle der versicherten Person vor der Eröffnung der verfahrensabschliessenden Verfügung den vorgesehenen Entscheid mittels eines sogenannten Vorbescheides mitzuteilen und ihr damit das rechtliche Gehör im Sinne des Art. 42 ATSG zu gewähren. Vorliegend hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin direkt mit der angefochtenen Verfügung vom 4. März 2014 eine Hilflosenentschädigung zugesprochen, ohne sie vorgängig mit einem Vorbescheid über ihren vorgesehenen Entscheid zu informieren. Damit hat sie ihre Vorbescheidspflicht verletzt. Die angefochtene Verfügung erweist sich folglich als rechtswidrig, weshalb sie eigentlich aufgehoben werden müsste. Mit der Aufhebung der Verfügung wäre die Rechtswidrigkeit aber noch nicht beseitigt. Die Sache müsste an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen und diese müsste angewiesen werden, ihren vorgesehenen Entscheid zuerst mit einem Vorbescheid mitzuteilen und erst anschliessend zu verfügen. Nur mit diesem Vorgehen könnte der verfahrensrechtliche Fehler der Beschwerdegegnerin behoben werden. Aufgrund der „zudienenden“ Funktion des Verfahrensrechtes räumt die Rechtsprechung aber die Möglichkeit ein,

von einer Korrektur einer Verfahrensrechtswidrigkeit abzusehen. Dies wird missverständlich als eine „Heilung“ bezeichnet, obwohl genau das Gegenteil geschieht: Der Mangel wird nämlich gerade nicht geheilt respektive behoben. Der einzige infrage kommende Grund für eine solche „Heilung“ ist eine Beschleunigung des Verfahrens,

die naturgemäss nur im Interesse der beschwerdeführenden Partei liegen kann. Folglich entscheidet die beschwerdeführende Partei allein darüber, ob eine Verfahrensrechtswidrigkeit „geheilt“ behoben richtig geheilt werden soll. Vorliegend kann also die Beschwerdeführerin darüber entscheiden, ob sie eine Aufhebung der angefochtenen Verfügung und eine Rückweisung der Sache zur Durchführung eines korrekten Vorbescheidsverfahrens an die Beschwerdegegnerin eine direkte materielle Behandlung ihrer Beschwerde bevorzugt. Die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin hat sich nicht zur Verletzung der Vorbescheidspflicht geäussert und nur einen materiellen Antrag gestellt. Damit hat sie eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sie eine direkte materielle Erledigung bevorzugt, weshalb die angefochtene Verfügung nicht ohne Weiteres wegen der Verletzung der Vorbescheidspflicht aufzuheben ist.

3.

    1. Eine versicherte Person mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz, die hilflos ist, hat einen Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung (Art. 42 Abs. 1 IVG), wobei zwischen einer schweren, einer mittelgradigen und einer leichten Hilflosigkeit unterschieden wird (Art. 42 Abs. 2 IVG). Eine schwere Hilflosigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person vollständig hilflos, das heisst in allen alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies eine dauernde Pflege eine persönliche Überwachung benötigt (Art. 37 Abs. 1 IVV). Eine mittelgradige Hilflosigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person entweder in den meisten alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf eine erhebliche Dritthilfe angewiesen ist (Art. 37 Abs. 2 lit. a IVV) wenn sie in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf eine erhebliche Dritthilfe angewiesen ist und zusätzlich eine dauernde

      Pflege eine persönliche Überwachung benötigt (Art. 37 Abs. 2 lit. b IVV) wenn sie in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf eine erhebliche Dritthilfe angewiesen ist und zusätzlich eine lebenspraktische Begleitung im

      Sinne des Art. 42 Abs. 3 IVG und des Art. 38 IVV benötigt (Art. 37 Abs. 2 lit. c IVV). Eine leichte Hilflosigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person entweder in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig eine erhebliche Dritthilfe (Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV) eine dauernde Überwachung (Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV) eine besonders aufwendige Pflege (Art. 37 Abs. 3 lit. c IVV) eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe bei der Pflege gesellschaftlicher Kontakte (Art. 37 Abs. 3 lit. d IVV) dauernd eine lebenspraktische Begleitung (Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV) benötigt. Ein Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung liegt vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge einer Gesundheitsbeeinträchtigung entweder ohne eine Begleitung durch eine Drittperson nicht selbständig wohnen kann (Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV) wenn sie für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf die Begleitung einer Drittperson angewiesen ist (Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV) wenn sie ernsthaft gefährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV).

    2. Angesichts der Berichte der behandelnden Ärzte und der plausiblen Angaben des ehemaligen Lebenspartners und der ehemaligen Beiständin der Beschwerdeführerin besteht kein ernsthafter Zweifel daran, dass diese aufgrund ihrer fortschreitenden Demenz auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Der Art. 38 Abs. 1 IVV sieht zwar drei alternative Tatbestände einer lebenspraktischen Begleitung im Sinne des Art. 42 Abs. 3 IVG vor, doch kann nur entweder ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung bestehen kein solcher Bedarf gegeben sein. Die massgebenden Gesetzesund Verordnungsbestimmungen sehen keinen doppelten dreifachen Bedarf an lebenspraktischer Begleitung vor, weshalb es für die Rechtsfolgeanordnung unerheblich ist, ob im Einzelfall nur eine, zwei alle drei alternativen Tatbestände erfüllt sind. Der ehemalige Lebenspartner der Beschwerdeführerin hat sinngemäss geltend gemacht, dass nur eine indirekte Dritthilfe eine lebenspraktische Begleitung sein könne; eine direkte Hilfe sei keine lebenspraktische Begleitung. Tatsächlich liegt ein typischer Anwendungsfall eines Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung vor, wenn eine versicherte Person zwar körperlich noch in der Lage wäre, selbständig zu wohnen, ausserhäusliche Kontakte zu pflegen und Erledigungen zu besorgen, sie aber aufgrund einer seelischen geistigen Beeinträchtigung nicht mehr fähig ist, die Notwendigkeit der entsprechenden Verrichtungen zu erkennen, respektive regelmässig angewiesen werden muss, die alltäglichen Aufgaben zu erledigen (vgl. Rz 8050 ff. des

      Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH]). Wenn aber die versicherte Person gesundheitsbedingt trotz einer Anleitung einer Überwachung respektive Kontrolle nicht in der Lage ist, die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten selbst auszuführen, und wenn die Begleitperson deshalb diese Tätigkeiten direkt erledigt statt nur die versicherte Person anzuleiten, gehört auch diese direkte Hilfestellung zur lebenspraktischen Begleitung (BGE 133 V 450). Rechtsprechungsgemäss kann also aus dem Umstand, dass gewisse Hilfestellungen direkt erbracht werden, nicht ohne weiteres abgeleitet werden, es bestehe ein Hilfebedarf, der über die lebenspraktische Begleitung hinausgehe.

    3. Praxisgemäss wird zwischen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen unterschieden: Ankleiden und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichten der Notdurft sowie Fortbewegung (vgl. Rz. 8010 KSIH). Eine Hilflosigkeit in einem dieser sechs Bereiche liegt vor, wenn die versicherte Person zumindest bezüglich einer zum fraglichen Bereich gehörenden Teilverrichtung auf eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen ist. Laut den Angaben des ehemaligen Lebenspartners hat sich die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verfügung noch selbständig anund auskleiden können. Sie ist zwar auf eine Anleitung bei der Kleiderwahl und darauf angewiesen gewesen, dass ihr eine Drittperson die Kleider wasche, aber diese beiden Hilfestellungen gehören zum Bereich der lebenspraktischen Begleitung, weil sie nicht das Anund Auskleiden selbst, sondern das selbständige Wohnen betreffen. Die Beschwerdeführerin hat auch selbständig aufstehen, absitzen und abliegen können. Die Hausärztin hat zwar erwähnt, dass der Zeitpunkt des Zubettgehens überwacht werden müsse, aber auch das gehört nicht zur Verrichtung selbst, sondern betrifft die Tagesstruktur und gehört damit zur lebenspraktischen Begleitung. In den Akten finden sich keine Hinweise dafür, dass die Beschwerdeführerin nicht mehr in der Lage gewesen sein könnte, selbständig zu essen. Auch das Verrichten der Notdurft ist der Beschwerdeführerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch selbständig möglich gewesen. Bezüglich der Körperpflege hat der ehemalige Lebenspartner der Beschwerdeführerin geltend gemacht, man müsse ihr den Rücken schrubben, die Haare kämmen und die Haare färben sowie kontrollieren, dass sie sich nicht mehrmals pro Tag dusche wasche. Die Anweisungen bezüglich des Duschens und des Waschens gehören zum Bereich der lebenspraktischen Begleitung. Gründe dafür, weshalb die Beschwerdeführerin nicht in

      der Lage sein sollte, sich mit einer geeigneten Bürste (mit langem Stiel) den Rücken selbst zu schrubben, sind nicht ersichtlich, denn die Beschwerdeführerin leidet an keinen körperlichen Beeinträchtigungen, die dies verunmöglichen würden. Zudem dürfte es in aller Regel genügen, wenn sich die Beschwerdeführerin den Rücken mit dem Wasserstrahl der Dusche wäscht. Auch bezüglich des Kämmens der Haare ist keine Beeinträchtigung ersichtlich, die dies verunmöglichen würde. Das Färben der Haare könnte der Coiffeur übernehmen. Diesbezüglich kann aber ohnehin nicht von einer regelmässig notwendigen, erheblichen Dritthilfe gesprochen werden, denn die Haare müssen nicht mindestens alle paar Tage gefärbt werden, weshalb der entsprechende Hilfebedarf noch keine Hilflosigkeit im Bereich der Körperpflege entstehen lässt. Unabhängig davon, ob im Bereich der Fortbewegung eine Hilflosigkeit vorliegt, können die Voraussetzungen für die Zusprache einer Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades nicht erfüllt sein, denn alle drei im Art. 37 Abs. 2 IVV vorgesehenen Varianten einer mittelgradigen Hilflosigkeit setzen eine Hilflosigkeit in mindestens zwei Bereichen voraus. Dessen ungeachtet ist aber auch eine Hilflosigkeit bei der alltäglichen Lebensverrichtung der Fortbewegung zu verneinen. Zwar hat der ehemalige Lebenspartner der Beschwerdeführerin geltend gemacht, diese sei auf eine ständige Begleitung angewiesen, wenn sie sich ausserhalb ihrer Wohnung bewege, und müsse zudem teilweise geführt werden, weil sie unsicheren Schrittes sei. Mit der Fortbewegung als einer der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen ist aber nur die Möglichkeit gemeint, selbständig von einem Ort zum andern zu gelangen. Nur wenn eine versicherte Person an einer Gesundheitsbeeinträchtigung leidet, die es ihr verunmöglicht, sich alleine fortzubewegen, kann sie in diesem Bereich hilflos sein. Das trifft in erster Linie auf Personen mit einer körperlichen Beeinträchtigung zu, die ihre Gehfähigkeit einschränkt. Erfasst sein können aber auch beispielsweise Personen mit einer Hirnschädigung, die die Funktionsfähigkeit des Bewegungsapparates beeinträchtigt. Nicht erfasst sind aber Personen, die körperlich noch in der Lage wären, sich selbständig fortzubewegen, aufgrund einer seelischen geistigen Gesundheitsbeeinträchtigung aber auf eine Begleitung angewiesen sind, um sich tatsächlich an einen bestimmten Ort begeben zu können. In der Rechtsprechung ist die Notwendigkeit einer solchen Begleitung zwar lange auch als eine Hilflosigkeit im Bereich der Fortbewegung qualifiziert worden, aber das ist nur so lange notwendig gewesen, als das Gesetz noch keine lebenspraktische Begleitung gekannt hat. Heute

      gilt eine solche Begleitung als lebenspraktische Begleitung, weshalb bei der Interpretation des Art. 42 IVG und des Art. 37 IVV der Begriff der „eigentlichen“ Hilflosigkeit in den sechs alltäglichen Lebensverrichtungen wieder auf den ursprünglichen Kern beschränkt werden kann. Nur so kann auch vermieden werden, dass ein Hilfebedarf - unzulässigerweise (vgl. Rz. 8024 KSIH) - doppelt berücksichtigt wird, also einmal bei der Fortbewegung und einmal bei der lebenspraktischen Begleitung. Zusammenfassend ist die Beschwerdeführerin also im massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses in keiner der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen hilflos gewesen.

    4. Da bei einer fehlenden Hilflosigkeit bezüglich der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen keine der im Art. 37 Abs. 2 IVV vorgesehenen Voraussetzungen für die Anerkennung einer mittelgradigen Hilflosigkeit erfüllt ist, da die Beschwerdeführerin aber auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen ist, hat sie einen Anspruch auf eine Entschädigung bei einer leichtgradigen Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 3 IVG).

4.

Bezüglich des Anspruchsbeginns verweist der Art. 42 Abs. 4 IVG auf den Art. 29 Abs. 1 IVG. Damit ist aber nicht der aktuelle Art. 29 Abs. 1 IVG gemeint, laut dem ein Rentenanspruch frühestens sechs Monate nach der Anmeldung entstehen kann, sondern vielmehr der alte Art. 29 Abs. 1 IVG, dem der aktuelle Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG entspricht. Der Gesetzgeber hat bei der Neugestaltung der Art. 28 ff. IVG im Rahmen der 5. IVG-Revision versehentlich vergessen, den Verweis im Art. 42 Abs. 4 IVG anzupassen (vgl. BGE 137 V 351 E. 4 - 5). Gemeint ist mit diesem Verweis also, dass die versicherte Person wie bei einer Rente ein Wartejahr zu absolvieren hat. Da die Erkrankung der Beschwerdeführerin fortschreitend verläuft, kann der genaue Zeitpunkt, ab dem die Beschwerdeführerin auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen gewesen ist, retrospektiv nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit bestimmt werden. Aus den medizinischen Akten geht hervor, dass die Beschwerdeführerin im September 2011 zwar bereits die Kriterien für die Diagnose einer dementiellen Erkrankung erfüllt hatte, aber dem entsprechenden Bericht der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich lassen sich keine ausreichenden Hinweise

dafür entnehmen, dass die Beschwerdeführerin bereits damals auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen war. Erst der Bericht von Dr. B. vom Januar 2012 enthält solche Hinweise. Im Zeitpunkt der Berichterstattung ist die Beschwerdeführerin also überwiegend wahrscheinlich bereits auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen gewesen. Zwar hat Dr. B. darin ausgeführt, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin in den Monaten vor der Berichterstattung wesentlich verschlechtert hatte, doch kann daraus nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit abgeleitet werden, dass die Beschwerdeführerin schon vor Januar 2012 auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen war. Wie genau die Erkrankung in den Monaten September 2011 bis Januar 2012 fortgeschritten ist, kann retrospektiv in antizipierender Beweiswürdigung nicht mehr mit dem erforderlichen Präzisionsgrad ermittelt werden, weshalb bezüglich eines Bedarfs an lebenspraktischer Begleitung für die Zeit vor Januar 2012 eine Beweislosigkeit vorliegt. Diese wirkt sich mangels einer spezifischeren gesetzlichen Regel zulasten der Beschwerdeführerin aus, das heisst eine Hilflosigkeit vor Januar 2012 bleibt unbewiesen. Das Wartejahr hat also erst im Januar 2012 zu laufen begonnen, weshalb es am 31. Dezember 2012 geendet hat. Die Beschwerdeführerin ist zwar erst im Juli 2013 zum Bezug einer Hilflosenentschädigung angemeldet worden. Da aber bezüglich der Hilflosenentschädigung nicht der (neue) Art. 29 Abs. 1 IVG, sondern vielmehr der Art. 48 Abs. 1 IVG massgebend ist, laut dem ein Anspruch auf eine Nachzahlung für die zwölf der Anmeldung vorausgehenden Monate besteht, kann die Hilflosenentschädigung rückwirkend per 1. Januar 2013 zugesprochen werden.

5.

Die angefochtene Verfügung erweist sich folglich als rechtmässig, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist. Die gemäss dem Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und angesichts des durchschnittlichen Verfahrensaufwandes auf 600 Franken festzusetzenden Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen. Diese Gebühr ist durch den von ihrer Rechtsschutzversicherung geleisteten Kostenvorschuss von 600 Franken gedeckt. Zufolge der Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung hat der Staat dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin eine Entschädigung auszurichten. Angesichts des durchschnittlichen Vertretungsaufwandes wäre die Entschädigung praxisgemäss auf

3’500 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen. Laut dem Art. 31 Abs. 3 AnwG werden aber nur 80 Prozent davon zugesprochen, also 2’800 Franken. Da die Beschwerdeführerin von ihrer Rechtsschutzversicherung bereits 1’380 Franken erhalten hat, besteht nur noch ein Entschädigungsanspruch von 1’420 Franken. Sollten es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse dereinst gestatten, wird die Beschwerdeführerin zur Rückerstattung dieser Entschädigung verpflichtet werden können (Art. 99 Abs. 2 VRP i.V.m. Art. 123 ZPO).

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Die Beschwerdeführerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-zu bezahlen; diese Gebühr ist durch den von der Rechtsschutzversicherung geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 600.-gedeckt.

3.

Der Staat hat den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit Fr. 1’420.--

(einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu entschädigen.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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